Die Entwicklung der japanischen Schriften
Die Japaner haben die Schrift - wohl in den ersten Jahrhunderten n. Chr. - von den Chinesen entlehnt. Die chinesische Schrift eignete sich für das Japanische denkbar schlecht, denn das Japanische ist eine mehrsilbige Sprache, deren Wortstämme (Verben, Adjektive) sich durch den Antritt von Suffixen ändern können. Um das starre chinesische Schriftsystem, das für eine isolierende Sprache wie das Chinesische große Vorteile haben kann, der japanischen Sprache anzupassen, ging man bald dazu über, die chinesischen Zeichen als bloße Lautzeichen ohne Rücksicht auf ihre Bedeutung zu verwenden.
Nach der ältesten japanischen Gedichtsammlung, dem Manyooshu (10000-Blätter-Sammlung), nennt man den phonetischen Gebrauch der chinesischen Zeichen Manyoogana.
Durch Verkürzung der chinesischen Zeichen entstand im 8.-9. Jahrhundert die japanische Silbenschrift, die Hiragana, in der es für eine Silbe früher viele Varianten gab. Später schuf man (12. Jh. ?) eine in den Schriftzügen weiter vereinfachte Silbenschrift, die Katakana. Beide Silbenschriften sind heute im Gebrauch; die Hiragana ist am verbreitetsten.
Obwohl nur 47 Zeichen vorhanden sind, nennen die Japaner das Silbenalphabet gojuuin, d. h. "die fünfzig Kana-Laute".
Die mit den Konsonanten b d g y p s anlautenden Silben werden durch Hinzufügen von zwei punktähnlichen Strichen (nigoriten) bzw. eines Kreises (maru) aus den Reihen der Hauchlaute und der stimmlosen Konsonanten geschaffen. Die mit p anlautenden Silben wurden von den Japanern als Ergebnis einer Halbtrübung (hannigori), die übrigen Silben mit zwei Strichen als Trübung (nigori) aufgefaßt. Diese Annahme war natürlich ein Aberglaube auf dem Gebiet der Phonetik.
Mit der Entlehnung der chinesischen Schrift begannen massenhaft chinesische Wörter ins Japanische einzudringen. Die Japaner konnten die chinesischen Laute nicht genau nachahmen und paßten sie ihren phonetischen Gewohnheiten an. Dennoch lassen sich aus dem japanischen Lautbild der chinesischen Wörter gewisse Rückschlüsse auf die Lautgestalt der entsprechenden chinesischen Wörter zur Zeit ihrer Entlehnung ziehen. Sie helfen bei der Rekonstruktion des altchinesischen Lautsystems.
Für das Lesen eines japanischen Textes ergeben sich durch die zahlreichen Entlehnungen unsägliche Schwierigkeiten. Ein chinesisches Zeichen kann für ein rein japanisches Wort stehen, es kann aber auch Träger des chinesischen Lehnwortes sein, das je nach der Entlehnungsepoche verschieden gelesen werden kann. Die an sich schon großen Schwierigkeiten der chinesischen Schrift werden, auf das Japanische angewandt, mindestens verdreifacht.
Die japanische Lesung eines Zeichens nennt man kun, die chinesische Lesung on. Das on kann eine dreifache Lesart haben:
1. kan-on, so genannt nach der chinesischen Han-Dynastie 206-221 v. Chr. Die Chinesen bezeichnen sich auch heute noch als die Han-Nationalität. Die Aussprache dieser chinesischen Wörter wurde zwischen dem 7. und 9. Jh. von buddhistischen Priestern aus Nordchina nach Japan gebracht.
Sie wird als eleganter betrachtet als die ältere...
2. go-on, go nach der chinesischen Provinz Wu (japanisch Go). Diese Lesung chinesischer Zeichen gelangte ungefähr im 6. Jh. mit der Einführung des Buddhismus nach Japan.
3. too-in (in, nicht on!), too nach der chinesischen Tang-Dynastie 620-907 n. Chr.). Sie wird jedoch erst später, im 17. Jh. nach Japan eingeführt und ähnelt am meisten der heutigen chinesischen Sprache.
Welche Art der Aussprache eines chinesischen Zeichens zu wählen ist; entscheidet allein der Sprachgebrauch. Um alle Zweifel einer Lesung zu beseitigen und überhaupt denen zu helfen, die nicht so viele chinesische Zeichen kennen, setzt man in vielen Zeitschriften und besonders Büchern volkstümlicher Art neben das chinesische Zeichen zur Angabe der Aussprache die entsprechenden Hiragana-Zeichen (Seiten-Kana).
Das Zeichen , das für chinesisch "ren" (= Mensch) steht, wird japanisch "hito" (= Mensch) gelesen. Dasselbe chinesische Zeichen kann aber auch nach go-on "nin" und nach kan-on "jin" gelesen werden. Steht das chinesische Zeichen allein und folgt ihm eine japanische Partikel, wird das Zeichen japanisch "hito" gelesen.
In Verbindung mit einem anderen oder weiteren Zeichen kann es japanisch oder chinesisch-japanisch (go-on oder kan-on) gelesen werden.
In den folgenden drei Verbindungen steht das Zeichen für "Mensch" immer am Anfang, wird aber verschieden gelesen:
hitomae (Menschen vor) (= Öffentlichkeit)
ninsoku (nach go-on: Mensch, Fuß) (= Arbeiter, Kuli)
jindoo (nach kan-on; Mensch, Weg) (= Humanität).
Der Chinese kann diese Wörter wegen ihrer japanischen Aussprache nicht verstehen. Sehr oft aber gibt es diese Wörter auch gar nicht im Chinesischen; sie sind erst auf japanischem Boden gebildet worden. Viele Ausdrücke der modernen Technik sind von den Japanern mit chinesischen Zeichen gebildet worden und dann nach China gelangt, wo sie dann nach den Ausspracheregeln des modernen Chinesischen ausgesprochen
werden.
Das Lesen eines japanischen Textes erfordert nicht nur die Kenntnis der verschiedenen Lesarten eines Zeichens, sondern auch noch eine kombinatorische Arbeitsleistung beim Lesen selbst.
Um die Schwierigkeiten des chinesisch-japanischen Schriftsystems, dessen Erlernung und teilweise Beherrschung viele Jahre angestrengter Arbeit kostet, zu vermindern, hat das japanische Erziehungsministerium 1947 beschlossen, die Zahl der in Zeitungen und amtlichen Schriftstücken zu verwendenden Zeichen auf 1850 einzuschränken. Außerdem werden auch schon die von der Pekinger Regierung vorgeschlagenen vereinfachten Formen vieler chinesischer Zeichen benutzt.
Die Einführung der Lateinschrift ist bisher durch verschiedene Umstände verhindert worden: Man wehrt sich gegen den Bruch mit der alten, reichen literarischen Tradition und vielleicht auch gegen den Bruch mit der chinesischen Welt. Die große Zahl auch der zweisilbigen Homonyme, die durch die chinesisch-japanische Lesung der chinesischen Schriftzeichen entstanden und noch entstehen, macht das gesprochene Wort oft schwer verständlich. Der Gedanke, viele dieser gleichklingenden Wörter durch mehrsilbige, rein japanische und deshalb deutlichere Wörter zu ersetzen, ist durch den Hinweis auf die Kürze und Prägnanz der chinesisch-japanischen Wörter und auf die Schwerfälligkeit der neuen langen japanischen Wörter bisher ohne Wirkung geblieben.
Man braucht nur ein japanisches Wörterbuch aufzuschlagen - die meisten japanischen Wörterbücher haben übrigens eine alphabetische Anordnung nach dem lateinischen Hepburn-Alphabet -, um sich eine Vorstellung von der erdrückenden Zahl der Homonyme zu machen. Das aus zwei Silben bestehende Wort "shinsei" hat mindestens 13 Bedeutungen, die durch die chinesischen Zeichen klar zum Ausdruck gebracht werden.
shinsei bedeutet:
1. die göttliche Natur, (= Gottheit), 2. Theokratie, 3. direkte kaiserliche Herrschaft, 4. kaiserliche Expedition, 5. Heiligkeit, 6. Gesuch, Antrag, 7. Natur, naturell, 8. Echtheit, 9. Redlichkeit, 10. Wesen, eigentliche Natur, 11. neu (gemacht), 12. neue Regierung, 13. neues Leben.
Die durch die Verquickung mit der chinesischen Sprache und Schrift geschaffene unglückliche japanische Sprachsituation wird durch das Bestehen zweier Sprachformen, einer Schriftsprache und einer Umgangssprache, noch vertrackter. Die Schriftsprache unterscheidet sich von der Umgangssprache in erster Linie dadurch, daß sie andere Formelemente (Endungen der Verben, Adjektive, Partikeln) als die Umgangssprache benutzt. Auch im Wortschatz zeigen sich Abweichungen, doch sind die Grenzen zwischen den beiden Sprachformen fließend und hängen von dem Bildungsgrad des Schreibenden oder Sprechenden ab. Die alte Schriftsprache findet sich besonders noch im Briefstil. Die schöne japanische Literatur wird nur in der Umgangssprache geschrieben. Auch der hier gezeigte Text und die hier gegebenen Formen gehören der Umgangssprache an, die ein immer weiteres Feld erobert.
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